Israel gilt als hoch entwickeltes Land mit einem staatlichen Gesundheitssystem, das allen Einwohner*innen eine umfangreiche Versorgung bieten soll. Laut Physicians for Human Rights (PHR), einer israelischen Partnerorganisation der Diakonie Katastrophenhilfe, existieren jedoch große Versorgungslücken, die nach dem Massaker der radikalislamischen Hamas vom 7. Oktober spürbar wurden. Mehr als 200.000 Israelis waren nach dem 7. Oktober zur Flucht gezwungen und mussten versorgt werden. Die Diakonie Katastrophenhilfe unterstützt PHR aktuell bei der Nothilfe. Im Interview berichtet Guy Shalev, Leiter der Organisation, von der Hilfe und den Herausforderungen der letzten Monate.
Welche Auswirkungen hatte der Überfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 auf das israelische Gesundheitssystem?
Unmittelbar nach dem Angriff waren Notärzte, Krankenhäuser und psychologische Notdienste mit den vielen schwer verletzten und traumatisierten Menschen überlastet. Im Januar 2024 hatten wir einen Report veröffentlicht, der deutlich machte, wie das Gesundheitssystem zuvor kaputtgespart wurde und deshalb in einem solchen Schlüsselmoment nicht die lebenswichtige Hilfe anbieten konnte. Schon vor dem 7. Oktober mussten Patient*innen mit psychischen Problemen bis zu einem Jahr auf einen Termin bei einem Therapeuten warten.
Der Krieg hat außerdem zu einer finanziellen Krise geführt, wodurch vielen Menschen nun das Geld für Zuzahlungen und Medikamente fehlt. Wir bei Physicians for Human Rights (PHR) treffen immer wieder auf Menschen, die sich notwendige Medikamente nicht leisten können.
Wie unterstützt PHR die Gesundheitsversorgung? Wen erreichen Sie und wie arbeiten Sie?
Über viele Jahre haben wir Asylbewerber*innen, Arbeitsmigrant*innen und Palästinenser*innen aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen behandelt, aber keine israelischen Staatsbürger*innen. Doch nach dem Überfall vom 7. Oktober mussten Nichtregierungsorganisationen große Teile der Gesundheitsversorgung übernehmen, da das staatliche System nicht in der Lage war, den immensen Bedarf zu decken. Wir haben zum Beispiel eine mobile Klinik für Überlebende des Kibbuz Be'eri bereitgestellt, bis der Staat selbst solche Kliniken eröffnete.
Dann haben wir die Lücken in der Gesundheitsversorgung analysiert und eben festgestellt, dass vor allem der Kauf von Medikamenten und medizinischem Material schwierig war. Mit Unterstützung der Diakonie Katastrophenhilfe haben wir ein neues Projekt gestartet, um Israelis zu helfen, die sich diese Sachen nicht leisten können.
Ist es Ihnen immer noch möglich, im Gaza-Streifen und dem Westjordanland die Gesundheitsversorgung zu verbessern?
Hierauf müssen wir eine sehr traurige Antwort geben. Bis Oktober haben wir regelmäßig Ärzte-Teams nach Gaza geschickt und dort Operationen durchgeführt, Sprechstunden angeboten und Gesundheitsfachkräfte aus Gaza fortgebildet. Doch seit dem 7. Oktober ist das wegen der Zugangsbeschränkungen durch Israel unmöglich geworden, wir konnten noch nicht mal Hilfsgüter wie Medikamente schicken.
Im Westjordanland können wir glücklicherweise weiterhin arbeiten und machen sogar mehr als bisher. Wir betreiben eine mobile Klinik, mit der wir vor allem Dörfer und Flüchtlingscamps versorgen, die durch strenge israelische Bewegungseinschränkungen isoliert sind und die unter der Gewalt durch Siedler und Militär leiden. Außerdem liefern wir Medikamente und Medizinbedarf an Krankenhäuser im ganzen Westjordanland.
Wie wichtig ist die Zusammenarbeit zwischen Israelis und Palästinensern, wie Sie sie betreiben? Wird diese Arbeit noch respektiert?
Wir sind stolz darauf, dass bei uns Israelis und Palästinenser zusammenarbeiten, als Angestellte, im Vorstand und als Freiwillige. Unserer medizinischen Arbeit können wir weiter nachgehen, aber unsere Arbeit als Menschenrechtsorganisation ist extrem schwierig geworden, weil die israelische Öffentlichkeit kaum mehr Aufrufe für die Rechte der Palästinenser toleriert. Unsere Mitarbeitenden wurden schon bedroht und Regierungsvertreter sprechen uns das Recht ab, weiterhin für Gesundheit für alle einzutreten.
Was sind die größten Herausforderungen nach Ende des Kriegs?
Soforthilfe im Gaza-Streifen: alle nötigen Medikamente und medizinischen Güter für die Krankenhäuser dort. Dazu muss das israelische Militär mit uns zusammenarbeiten und die Überweisungsbeschränkungen müssen aufgehoben werden.
Auf lange Sicht werden wir hoffentlich dabei helfen, Informationen im Gaza-Streifen zu sammeln über das, was dort im Krieg geschehen ist. Bei einer solchen Dokumentation haben wir bereits nach dem Krieg 2014 geholfen. Gerade arbeiten wir an einer Handreichung mit den zehn wichtigsten Aufgaben beim Wiederaufbau des Gesundheitssystems in Gaza. Unsere zentrale Botschaft ist, dass beim Wiederaufbau die palästinensischen Akteure im Gesundheitswesen vollständig mit einbezogen werden müssen, das darf nicht über ihre Köpfe hinweg geschehen.