„Die Not ist in den Gesichtern der Menschen zu erkennen“
Ein Jahr nach den Erdbeben sind die Spuren sowohl in der Türkei als auch in Syrien noch sichtbar, die Herausforderungen weiterhin groß. Mehr als 56.000 Menschen kamen im Februar 2023 ums Leben. Umutcan Yüksel, Koordinator für das Türkei-Programm der Diakonie Katastrophenhilfe, ist regelmäßig in den betroffenen Gebieten unterwegs. Im Interview berichtet er ein Jahr nach der Katastrophe über die aktuelle Notsituation, Bemühungen beim Wiederaufbau und warum der Zugang zu Hilfe nicht immer gerecht ist.
Umutcan Yüksel koordiniert das Türkei-Programm der Diakonie Katastrophenhilfe und halt sich regelmäßig in der Erdbebenregion auf.
Wie sieht das Leben und die Realität der Betroffenen jetzt aus? Sind die Folgen der Beben allgegenwärtig?
Die Spuren der verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien sind noch immer sichtbar, sowohl in den Städten als auch auf dem Land. Trotz großer Anstrengungen im letzten Jahr bestehen weiter große Herausforderungen. Die betroffene Region ist so groß wie Deutschland. Abgerissene und beschädigte Gebäude wurden mittlerweile beseitigt und Wiederaufbauprojekte sind angelaufen.
Parallel bestehen humanitäre Bedarfe fort. In den betroffenen türkischen Provinzen leben 740.000 Menschen in formellen und informellen Übergangsbehausungen. Meist sind das einfache Container. Der Winter gefährdet vor allem Menschen in informellen Siedlungen und ländlichen Gebieten.
Wie gehen die Menschen damit um? Herrscht so etwas wie Normalität im Alltag?
Die Not ist in den Gesichtern der Menschen, mit denen ich seit den Erdbeben regelmäßig spreche, deutlich zu erkennen. Die Städte, an die sie sich gerne erinnern, haben sich tiefgreifend verändert. Viele haben den herzzerreißenden Verlust von nahen Verwandten, Familienmitgliedern und Freunden hinnehmen müssen. Als humanitärer Helfer, der selbst den Verlust von Angehörigen bei diesen Erdbeben erlebt hat, spüre ich diese anhaltenden Herausforderungen. Eine Normalisierung wird Zeit brauchen.
Die winterlichen Bedingungen erinnern die Menschen auch an die ersten Wochen nach den Erdbeben. Die gibt es in der Region übrigens noch immer. Das jüngste Nachbeben der Stärke 5,5 in Malatya fand am 25. Januar statt. Alles das verstärkt bei den Menschen die Traumata, die sie erlitten haben. Viele Menschen haben mit Angstzuständen, Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) zu kämpfen. Hinzu kommt auch geschlechtsspezifische Gewalt. Hier müssen wir gezielt unterstützen.
Was sind weitere dringende Maßnahmen, mit denen Betroffenen geholfen werden muss?
Ein wichtiger Bereich ist die erwähnte psychische Gesundheit. Wir haben frühzeitig begonnen, diese Probleme mit unserem lokalen Partner STL anzugehen. Diese Hilfe muss zukünftig stärker für Einzelpersonen geleistet werden. Zudem benötigten die Menschen weiter humanitäre Hilfe wie Lebensmittel, Wasser und auch Unterkünfte. Jetzt ist auch entscheidend, finanziell zu unterstützen, denn die lokalen Märkte haben sich erholt und Bargeldhilfe kann die lokale Wirtschaft wiederbeleben.
Bargeld- und Gutscheinprogramme werden deshalb im Fokus stehen, um die Winter- und Hygieneversorgung der am stärksten gefährdeten Haushalte zu decken. STL errichtet Wassertanks, Latrinen und Duschen in enger Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden und halt sie weiter instand. Dabei sind wir gemeinsam mit unserem Partner bestrebt, die lokalen Strukturen zu stärken und sicherzustellen, dass wir die Gebiete und Personen mit dem größten Bedarf erreichen.
Welche Personen oder Gruppen sind das?
Zugang zur Hilfe ist nicht immer gerecht, und die schwächsten Gruppen sind am stärksten von Ausgrenzung bedroht. Frauen und Mädchen, Kinder und Jugendliche, Menschen mit Behinderungen, schwangere Frauen, ältere Menschen, Flüchtlinge, Menschen in ländlichen Gebieten und andere wichtige Bevölkerungsgruppen: Sie alle stoßen beim Zugang zu humanitärer Hilfe auf Hindernisse. Daher bietet unser Partner STL gezielt denjenigen Hilfe an, die Gefahr laufen, übersehen zu werden. Das betrifft vor allem Menschen, die in informellen Siedlungen leben.
Uns ist auch wichtig, Menschen mit besonderen Bedürfnissen in ihren Gemeinschaften zusammenzubringen. Auf diese Weise können sie ihre Probleme zum Ausdruck bringen, sich über ihre Rechte und die ihnen zur Verfügung stehenden Dienstleistungen informieren und für das eintreten, was ihren Alltag verbessert. Es geht darum, den Menschen dabei zu helfen, auf respektvolle und selbständige Weise voranzukommen.
____________
Mehrere schwere Erdbeben haben im vergangenen Jahr in den frühen Morgenstunden am Montag, 6. Februar 2023 die Türkei und Syrien erschüttert. Mehr als 56.000 Menschen sind dabei ums Leben gekommen, Hunderttausende wurden verletzt, zehntausende Gebäude zerstört. Wir sind weiterhin mit unserer lokalen Partnern vor Ort und leisten Nothilfe.
