Monitoring-Mission im Osten der Ukraine: Jeden Tag besuchen die Mitarbeitenden unserer ukrainischen Partnerorganisation Vostok SOS andere Orte, um mit den Menschen zu sprechen, die Lage zu erfassen, humanitäre Not zu erkennen und Evakuationsbedarf zu registrieren. Die Ergebnisse des Monitorings helfen, den operativen Fokus dorthin zu richten, wo Menschen keine andere Hilfe bekommen. Wir veröffentlichen Auszüge aus ihrem Logbuch, geführt von Imke Hansen. Heute: Tag 2, Cherson.
Maksim ist früher kein zivilgesellschaftlicher Aktivist gewesen. Er hat als Sprecher gearbeitet, hat Zeit mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern verbracht und darauf gespart, ein Haus zu kaufen. Nun organisiert er humanitäre Hilfe, ist Ansprechpartner seines Wohnblocks und kümmert sich um alles Mögliche. Wir sitzen bei ihm in der Wohnung, seine Frau macht Kaffee.
Die Familie ist während der gesamten Okkupation in Cherson geblieben. Sie wollten ihre Familie nicht zurücklassen, ihre kranke Mutter, und auch nicht ihr Zuhause, ihre Heimat. Nachbarn und Freunde, die weggefahren sind, haben viel Druck gemacht, das war eine psychische Belastung, erzählen sie. Sie haben sich bewusst dafür entschieden, zu bleiben und bereuen diese Entscheidung nicht.
Sie erzählen von dem Druck während der russischen Okkupation. Wer seine Kinder in die russische Schule geschickt hat, hat einen Geldbetrag bekommen. Gleichzeitig kursierten Gerüchte, dass den Familien, die ihre Kinder nicht in die Schule schicken, die Kinder weggenommen werden.
Maksims Familie hat sich bemüht, während der gesamten Okkupation keine russischen Produkte zu kaufen. Das einzige, was sie kaufen mussten, war ein Katzenklo. Das geht moralisch für mich in Ordnung, sagt Maksims Frau, das hat ja vor allem mit Katzenscheiße zu tun.
In Cherson gibt es aktuell keinen Strom, kein Wasser, kein Internet und kaum mobiles Netz. Heute ist der erste Tag, an dem die Geldautomaten wieder funktionieren. Vor ihrem Rückzug hat die russische Armee bereits viel Infrastruktur zerstört, aktuell wird die Infrastruktur intensiv beschossen. In Cherson ist permanent Beschuss zu hören. An dem Nachmittag, den wir mit Maksim verbringen, zählen wir 40 Einschläge. Das gilt als ruhiger Tag, im Gegensatz zu vergangenem Freitag, da war es richtig heftig, sagt Maksims Tochter. Wenn es heftig wird mit dem Beschuss, dann versammeln sich Maksims Familie und einige Nachbarn und singen gemeinsam. Das hilft.
In der Eingangshalle treffen wir Alla, sie leitet den Bahnhof. Bevor wir uns vorstellen können hat sie schon begriffen, wir sind irgendeine Form von Freiwilligen, NGO-Mitarbeitern, „Volontäre“, wie man hier sagt, und beginnt sofort damit, an was es fehlt. Momentan fehlt es an Information. Seit drei Tagen gibt es einen Evakuationszug mit vier Wagons, der täglich am frühen Abend abfährt. Am ersten Tag sind 24 mitgefahren, am zweiten schon über 80, aber es gibt Platz für mehr als dreimal so viele. Es gibt keine Information darüber in der Stadt, sagt sie, die meisten Leute wissen nicht von dieser Evakuationsmöglichkeit. Und in einer Stadt ohne Strom und Netzempfang ist es gar nicht so leicht, Leute zu informieren.
Immerhin, der Bahnhof selbst hat Strom. Er gehört – wie auch Krankenhäuser – zu der kritischen Infrastruktur, die zuerst versorgt wird. Der rechte Flügel des Bahnhofs ist zu einer Handy-Aufladestelle geworden. Er ist gut gefüllt mit Menschen, die ihre Geräte aufladen. Jeder Ladeplatz ist besetzt. Im linken Teil des Bahnhofs werden die Leute für die Evakuation verifiziert. Ihr Ausweis wird kontrolliert und ihre Daten erfasst. Wenn jemand keinen gültigen Ausweis hat, was nicht so selten ist, werden die Daten erfasst und überprüft. Die Menschen stehen Schlange, es gibt kleine Konflikte mit der Frau, die den Durchlass korrigiert. Alle Beteiligten scheinen gestresst. Bis zur Abfahrt des Zuges sind es noch vier Stunden.
Auf dem zentralen Platz von Cherson stehen zwei Zelte, in denen es Warm ist, man sein Handy aufladen und Tee trinken kann. Das eine Zelt ist brechend voll, das andere weniger, offenbar weil da der Tee ausgegangen ist. Kinder kommen auf uns zu und bieten an, ein Lied zu singen, unsere Scheiben zu putzen, oder fragen direkt nach Geld. In den zwei Stunden, in denen wir da sind, weichen sie nicht vom Platz. Ein Lastwagen fährt auf den Platz und es werden 5-Liter-Flaschen mit Wasser verteilt. In kürzester Zeit verbreitet sich die Nachricht in den Zelten und es bildet sich eine lange Schlange.
Am Anfang, erzählt Anton, der das humanitäre Verteilzentrum leitet, wurde alle humanitäre Hilfe einfach auf den zentralen Platz gefahren und aus dem LKW ausgegeben. Auf diese Weise bekommen immer die nichts ab, die ohnehin Einschränkungen haben: Menschen, die das Haus nicht verlassen können, Menschen mit Behinderung oder alte Menschen, die sich nicht so schnell bewegen können, oder die Hilfspakete nicht nach Hause tragen können. Das Verteilzentrum versucht, Bedarfe zu erfassen und dort zu verteilen, wie die Hilfe nötig ist. Das ist nicht leicht, wenn es keinen Strom und keinen Telefonempfang gibt, also auch keine Möglichkeit, Informationen weiterzugeben und zu erhalten. Die Lagerhallen des Verteilzentrums hat ein Privatunternehmer zur Verfügung gestellt. Auf dem Areal sind zahlreiche Hunde beheimatet. Die waren schon vor uns da, sagt Anton, und jetzt freuen sie sich weil alle sie füttern.
Anton ist eigentlich der Leiter der städtischen Abteilung für soziale Unterstützung. Seine Abteilung wurde abgeordnet, die humanitäre Hilfe zu organisieren. Keiner von uns hat Erfahrung mit humanitärer Logistik, wir bräuchten hier dringend Fachleute, sagt er. Aber Fachleute stehen nicht zur Verfügung. Und da es ja auch mit den Sozialarbeitern zu funktionieren scheint, sieht die Stadt keinen weiteren Handlungsbedarf.