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„Die Menschen haben Angst, dass die Solidarität bröckelt“

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Martin Keßler, Leiter der Diakonie Katastrophenhilfe, berichtet im Interview von seiner Ukraine-Reise. Er begleitete Partnerorganisationen und sprach mit Betroffenen des Krieges. Vor allem in Frontnähe brauchen ältere Menschen Hilfe, die unter den Folgen des Krieges leiden. Dafür sind weiter Spenden nötig.

Martin Keßler sieht sich gemeinsam mit Andrij Waskowycz, dem Büroleiter der Diakonie Katastrophenhilfe in Kiew, Schäden hinter der Kriegsfront an.

Sie waren in Kiew, aber auch in frontnahen Regionen nahe der Stadt Charkiw und Dörfern der Region unterwegs. Welchen Eindruck haben Sie von der aktuellen humanitären Lage und der Hilfe?

Die Ukraine ist heute ein Land mit zwei Gesichtern. Es gibt Städte wie Kiew und selbst Charkiw, in denen ein normaler Alltag scheinbar möglich ist. Regelmäßige Luftalarme rücken den Krieg jedoch ins Bewusstsein. Die meisten Raketen werden in der Luft abgefangen und sind dennoch ein Risiko für die Menschen. Man kann dann nur hoffen, dass Trümmerteile einen nicht erwischen, denn ausreichend Zeit, um rechtzeitig Schutz in Bunkern zu suchen, bleibt fast nie. Die Menschen haben sich daran schon gewöhnt. Krieg und Alltag liegen sehr nah beieinander.

Und wie ist die Lage im Osten?

Im Osten und dort vor allem auf dem Land ist die Lage wesentlich kritischer. Der Krieg hat das Alltagsleben auf ein Mindestmaß reduziert, nur wenig funktioniert noch. Ich war beeindruckt von der professionellen Arbeit unserer Partner. Sie leisten sehr engagierte humanitäre Hilfe und stehen den Menschen bei, auch durch Rechtshilfe. Bis heute haben Menschen teils noch sowjetische Reisepässe, die ihr einziges Ausweisdokument darstellen. Diese Leute fragen sich, wie man damit jetzt in der Ukraine klarkommt. Ein Rechtsanwalt, der aus einem kleinen Ort nach Kiew geflüchtet war, reist nun regelmäßig dorthin zurück und hilft seinen Nachbarn, ihre Papiere in Ordnung zu bringen: Rentenunterlagen, Landrechte, Nutzungsrechte von Häusern. Diese Hilfe ist nicht zu unterschätzen, um den Menschen Struktur zu geben und das Leben in einer Zone zu ermöglichen, die umkämpft war und es weiter ist.

Es handelt sich dabei auch um ehemals von Russland besetzte Territorien. Warum bleiben Menschen trotz der anhaltenden Gefahr?

Familien mit Kindern sind kaum zu sehen, die sind geflüchtet. Meist sind es ältere Menschen, die gar nicht weggehen können. Sie haben im Monat nur eine Rente von umgerechnet 380 Euro zur Verfügung. Das reicht höchstens, um die Strom- und Gasrechnung bezahlen. Sie leben von dem, was sie selbst anbauen, und für den Winter konservieren. Sie brauchen also ihr Zuhause und ihren kleinen Gemüse- und Kartoffelacker nebenan. In einer Notunterkunft hätten sie vielleicht ein Dach über dem Kopf, aber sie könnten sich das Essen nicht leisten.Es ist schwer, diese Menschen von einer Evakuierung zu überzeugen, zwingen kann sie keiner. Deshalb muss die Hilfe auch nahe der Front geleistet werden, so wie es die Teams unserer Partner tun.

Eine wachsende Gefahr bilden Landminen. Wie problematisch ist das für Menschen, die geblieben sind?

Das Problem ist groß. So groß wie die Hälfte Deutschlands: Rund 170.000 Quadratkilometer sind vermint und das gefährdet Menschen auf lange Zeit. Ich habe einen alten Bewohner getroffen, der frieren muss, weil er im anliegenden Wald wegen der Minen kein Feuerholz schlagen kann. Manche Leute versuchen selbst, ihre Äcker mit Schaufeln auf Minen zu prüfen und irgendwie zu räumen. Das ist ungemein gefährlich, aber auf der anderen Seite sind die Menschen darauf angewiesen, damit sie im Sommer wieder etwas anpflanzen können.

Was benötigen die Menschen in der Ukraine in den nächsten Monaten am dringendsten?

Auf der einen Seite gibt es rund drei Millionen Binnenvertriebene, die vor allem im Westen des Landes Schutz suchen. Dort funktionieren Märkte und unsere Partner können mit Bargeld unterstützen. Zudem leisten sie dort wichtige psychosoziale Hilfe, um traumatische Kriegserlebnisse zu verarbeiten.

Auf der anderen Seite gibt es in Frontnähe keine Geschäfte mehr, keine Arbeit, keine notwendige Infrastruktur oder Gesundheitsversorgung. Der Aufwand für eine ambulante Versorgung ist hier hoch. Menschen im Alter von 70, 75 oder 80 Jahren müssen in entfernten Gegenden erreicht werden. Das ist nur schwer zu leisten. Hinzu kommen die Schäden durch den Krieg. Unser Partner reparierte vor allem in den Wintermonaten Häuser, damit sie bewohnbar werden.

Wie gut sind die Diakonie Katastrophenhilfe und ihre Partner in der Lage zukünftig Hilfe zu leisten?

Unser Büro in Kiew und unsere Partnerhaben eine robuste Struktur, um lange weiterarbeiten zu können. Die Mitarbeitenden bei unserem Partner „East SOS“ sind motiviert, jung und legen sich sehr ins Zeug. Viele von ihnen sind Frauen, da junge Männer vor allem an der Front sind. Zusammen reparieren sie Häuser, evakuieren Menschen oder verteilen Hilfsgüter. Das läuft reibungslos.

Dafür werden dringend Spenden benötigt. Wir hatten ein Rekordergebnis in den vergangenen zwei Jahren, und wir haben dieses Geld auch in Rekordzeit umgesetzt. Spenden bleiben wichtig, um unsere Hilfe weiter aufrecht erhalten zu können.

Derzeit wird viel über die weitere Unterstützung der Ukraine diskutiert. Wie wird das in der Ukraine wahrgenommen?

Alle schauen verständlicherweise auf die Gaza-Krise und das Weltgeschehen. Die Menschen in der Ukraine merken, dass ihre Lage aus dem Blickfeld gerät. Dazu kommen die politischen Debatten in den USA und die eher zurückhaltende Ukrainehilfe. Sie haben Angst, dass die Solidarität bröckeln wird, und sorgen sich, dass sowohl die humanitären Hilfsgelder geringer werden, aber auch die militärische Hilfe. Denn das böte der Gegenseite die Gelegenheit, die Angriffe zu intensivieren. Mit unmittelbaren humanitären Folgen: Wenn eine Großstadt wie Charkiw oder Kiew erobert werden sollte, flieht eine enorm große Zahl von Menschen. Nicht nur in den Westen des Landes, sondern in andere Länder, wo schon heute sechs Millionen geflüchtete Ukrainer:innen leben.

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