„Meine Arbeit ist der Sinn meines Lebens“
Die Pandemie hat viele Dinge in unserem Leben verändert und tut es immer noch. Was würden Sie tun, wenn Sie plötzlich Schwierigkeiten hätten, Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen zu bekommen? Ihren Job verlieren würden, keine Unterkunft hätten und zu allem Überfluss auch noch krank würden? Semih Öztürk von unserer Partnerorganisation „Support to Life Istanbul“ erzählt, was es für ihn bedeutet, Menschen in Zeiten der Corona-Pandemie zu unterstützen.
Mein Name ist Semih Öztürk. Ich bin Sozialarbeiter und meine Arbeit ist der Sinn meines Lebens. Ich habe bei verschiedenen Nichtregierungsorganisationen und in verschiedenen Städten gearbeitet. Seit fast zwei Jahren arbeite ich im „Istanbul Support to Life House“, einem Gemeinschaftszentrum in Küçükçekmece. Als Implementierungspartner der in Deutschland ansässigen Diakonie Katastrophenhilfe ist es unser Hauptziel, den Lebensstandard von Geflüchteten zu verbessern, ihren Zugang zu Dienstleistungen und das Wahrnehmen ihrer Rechte sicherzustellen sowie ihre aktive Teilnahme an der Gemeinschaft zu unterstützen. Diese Aktivitäten werden durch die Humanitäre Hilfe der Europäischen Union finanziert. Wir begleiten Menschen mittels Beratung, Information, Aufklärungsgesprächen, Workshops, Lobbyarbeit und mobilen Schutzmaßnahmen.
Die COVID-19-Pandemie ist eine der größten Katastrophen des 21. Jahrhunderts. Sie bedroht nicht nur die menschliche Gesundheit, sondern auch die psychologische, soziale und wirtschaftliche Integrität. Leider hat sie die Flüchtlinge, die ohnehin schon eine verletzliche Gruppe sind, am härtesten getroffen. Wir erleben es täglich vor Ort. Zum Beispiel hatte eine unserer Beraterinnen ohne Flüchtlingsstatus eine Reihe von chronischen Gesundheitsproblemen und arbeitete illegal - nennen wir sie Leyla. Während der Pandemie verlor Leyla ihren Job, dann ihr Haus, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen konnte. Sie hatte keinen Zugang zu Gesundheitsdiensten, obwohl sie dringend eine regelmäßige Dialyse benötigte. Leylas Geschichte ist kein Einzelfall. Tausende von Menschen befinden sich in einer ähnlichen Situation, aber sie alle haben eines gemeinsam: Sie kämpfen darum, über die Runden zu kommen und die Pandemie zu überstehen.
„Trotz Überstunden hatten wir nie das Gefühl, dass es genug war“
Als COVID-19 die Türkei erreichte, schnellten die Anfragen nach Unterstützung durch unseren Verband in die Höhe. Die Menschen waren nicht einmal mehr in der Lage, ihre grundlegendsten Bedürfnisse zu decken. Es fehlte an Lebensmitteln und einem sicheren Ort zum Schlafen und Leben. Unsere spezialisierten Mitarbeitenden nahmen sich jedem einzelnen Fall an und verteilten Lebensmittel und Hygienekits.
Aufgrund der Pandemie sind die Menschen viel mehr Risiken ausgesetzt. Als zum Beispiel die Schulen geschlossen wurden, konnten tausende Kinder nicht am Fernunterricht teilnehmen, weil sie kein Fernsehen, Internet oder keine Computer hatten. Einige Kinder wurden in die illegale Beschäftigung getrieben - wir sahen, dass das Alter der arbeitenden Kinder sank und bereits Kinder im Alter von 10 Jahren arbeiteten. Wir erhielten auch mehr Anfragen nach Unterstützung von Menschen, die geschlechtsspezifische Gewalt erlebt hatten. Wirtschaftliche Engpässe führten dazu, dass viele Menschen ihr Zuhause verloren. Aber für mich war die größte Herausforderung, dass wir im Team unser Privatleben opferten und Überstunden machten. Nur so konnten wir auf alle Anfragen reagieren. Dennoch war die Not so groß, dass es sich nie so anfühlte, als wäre das, was wir anbieten konnten, genug.
„Kurze Momente können Hoffnung und Glauben schenken“
Als die Pandemie fortschritt, passten wir uns dem „neuen Normalzustand“ an. Wir haben Präventivmaßnahmen ergriffen, um unsere Mitarbeitenden und die Menschen, die bei uns Hilfe suchen, sicher und gesund zu halten. Es war schwierig, Distanz zu Menschen zu halten, die nicht in der Lage waren, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, die uns brauchten, um ihnen beizustehen, sie zu unterstützen, sie zu stärken. Wenn sich zum Beispiel Leyla an uns wandte, nachdem sie einige Tage wegen ihres Nierenleidens im Krankenhaus verbracht hatte, gingen wir zu ihr. Sie hatte Schwierigkeiten beim Gehen. Gleichzeitig brauchte sie eine Unterkunft, musste Schutz beantragen und Zugang zu einer Dialysebehandlung erhalten. Es gab eine Nichtregierungsorganisation, die ihr bei der Unterbringung helfen konnte, aber damit sie in deren Zentrum einchecken konnte, verlangten sie einen COVID-19-Test, den sich Leyla nicht leisten konnte. Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, halfen wir ihr, den Test zu machen, und brachten sie für die Nacht unter, bis sie die Ergebnisse erhielt. Am nächsten Tag brachten wir sie in das Unterbringungszentrum; wir unterstützten sie dabei, einen Schutzstatus zu bekommen, der ihr den Zugang zu Gesundheitsdiensten für die Dialysebehandlung sicherte.
Ein kurzer Moment wie dieser, eine gewöhnliche menschliche Stimme kann Hoffnung und Glauben schenken. Genauso wie die Freude der Kinder zu sehen, wenn wir ihnen Lebensmittel- und Hygienesets nach Hause liefern. Zu sehen, dass wir einen positiven Einfluss auf das Leben der Menschen haben, motiviert uns, auch angesichts der großen Herausforderungen an der Seite der Menschen zu stehen.