Im heutigen Eintrag schildert Imke Hansen, Mitarbeitende unserer ukrainischen Partnerorganisation Vostok SOS, ihre Eindrücke von Kramatorsk. Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen ist Imke auf Monitoring Mission im Osten der Ukraine und besucht Orte, um mit den Menschen zu sprechen, die Lage zu erfassen, humanitäre Nöte zu erkennen und Evakuationsbedarf zu registrieren. Wir veröffentlichen Auszüge aus ihrem Logbuch.
Der Bahnhof von Kramatorsk sieht so ordentlich aus, dass man ihn zunächst nicht mit den Bildern zusammenbringen kann, die nach dem Raketenbeschuss des Bahnhofs am 8. April um die Welt gingen, bei dem 57 Menschen starben und 109 verwundet wurden. Frisches Pflaster, ein neuer Zaun, und sogar die Spanplatten, die die hohen Fenster schützen, sind im gleichen Dunkelrot gestrichen, wie der Bahnhof. Kramatorsk bemüht sich um Ästhetik. Am Zaun hängt eine Kette von Kuscheltieren, und ein Gedenkstein davor weist auf die Kinder hin, die bei dem Anschlag gestorben sind.
Im Bahnhof ist es nicht weniger aufgeräumt. Die Bahnhofsvorsteherin führt uns herum: Noch gibt es Strom und Heizung in Kramatorsk, aber falls es damit Probleme gibt, sind wir vorbereitet, sagt sie. Hier ist es warm, wir haben Steckdosen zum Handy aufladen, und können auch Decken verteilen. Neulich nachts kamen zwei Züge erst nach 1 Uhr nachts an, und weil das nach der Sperrstunde ist, konnten die Menschen den Bahnhof nicht verlassen, bestimmt 300 Personen waren davon betroffen. Wir haben für jeden ein Plätzchen gefunden, haben Tee ausgegeben, und alle waren zufrieden, bis sie dann nach Aufhebung der Sperrstunde in den frühen Morgenstunden den Bahnhof verlassen konnten. Ob der Bahnhof noch etwas braucht, fragen wir. Eigentlich sei alles da, antwortet sie. Generatoren habe sie vor ein paar Tagen vorbeigebracht, autonomes Internet ist auch vorhanden. Kopflampen und mehr Decken wären nicht schlecht, antwortet sie. Und eine Telefonnummer von Vostok SOS, damit sie sich an jemanden wenden kann, wenn doch noch etwas fehlt.
Vom Bahnhof fahren wir in die Stadt zu einer evangelikalen Gemeinde. Hier werden Menschen für Evakuierung registriert und mit Bussen nach Pokrovsk zum Zug gefahren. Es handelt sich um ausrangierte Schweizer Postbusse, die die Partnerorganisation von Vostok SOS, Libereco - Partnership for Human Rights, organisiert und in die Ukraine gebracht hat. Mit denen fahren die „rettenden Engel“, eine von Protestanten gegründete Organisation, die bei der Evakuierung aus den beschossenen und zuvor besetzten Gebieten aktiv mit dabei ist. Vostok SOS unterstützt die Evakuationscrews der „Engel“ – so werden sie allgemein genannt, und arbeitet eng mit ihnen zusammen. Im Alltag führt das zu komischen Dialogen, mein Favorit momentan: „Wo sind denn die Engel?“ - „Die Engel sind noch tanken“.
Marina, die die Menschen registriert, ist nicht aus der Ruhe zu bringen. Die Menschen, die sich um ihren Tisch drängen, sind aufgeregt, haben Angst, nicht mitgenommen zu werden, zwei wollen am liebsten gleich heute los, haben aber ihr Gepäck nicht dabei. In der Regel müssen sich die Leute am Tag vorher registrieren, das geht telefonisch oder vor Ort. Menschen, die nicht aus eigener Kraft zum Treffpunkt kommen können, werden mit einem Kleinbus abgeholt. Obwohl Marina nicht besonders laut spricht, dirigiert sie die Evakuationskandidaten mit Leichtigkeit. Die für morgen sollen sich jetzt erstmal hinsetzen, damit sie die auf der Liste abhaken kann, die heute Abreisen. Der Bus ist schon abfahrbereit, die Kleinbusse aus den umliegenden Orten sind auch schon eingetroffen. Gleich geht es los. Für viele Menschen ist die Evakuation eine Reise ins Ungewisse. Sie wissen nicht, wohin sie kommen werden, oder wie es da sein wird. Ob sie dortbleiben können, oder noch weitersuchen müssen, bis sie eine mittelfristige temporäre Bleibe gefunden haben. Sie wissen auch nicht, ob sie ihr Zuhause, ihre Stadt jemals wiedersehen werden.